Aus alltäglichen Erfahrungen lassen sich wichtige Aspekte für mehr Sicherheit der Arbeitnehmer:innen ableiten. Wie man diese in der Praxis nutzen kann, zeigt Safety-II.

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Im klassischen Zugang zum Arbeitnehmer:innenschutz, auch „Safety-I“ genannt, wird Sicherheit oft an Nicht-Ereignissen gemessen, also an Unfällen oder beruflich bedingten Erkrankungen, die nicht eintreten. Dies führt zu der Herausforderung, dass Erfolg in der Präventionsarbeit nicht oder nur bedingt nachgewiesen werden kann. Denn, je besser die Präventionsarbeit ist, desto weniger Unfälle passieren. Das bedeutet allerdings auch: je weniger (auswertbare) Zahlen, desto besser.

 

Im klassischen Sicherheitsmanagement schauen sich die Verantwortlichen vor allem an, welche Risiken und Gefahren bestehen. Es geht darum, was passieren oder falsch laufen kann. Auch nach kritischen Ereignissen und Unfällen richtet sich die Aufmerksamkeit auf jene Prozesse, die fehlerhaft durchgeführt wurden.

 

Um die Wahrscheinlichkeit von Fehlern zur reduzieren, werden in weiterer Folge – neben technischen Maßnahmen – von den verantwortlichen Personen auch Prozesse beschrieben, die zu sicheren und effizienten Tätigkeiten führen. Für diese alltäglichen Handlungen werden somit Regeln und Beschreibungen von Sollabläufen der Prozesse erstellt, auch als „Work-As-Imagined“ bezeichnet. In weiterer Folge werden die Mitarbeitenden  darin unterwiesen.

 

Dynamische Bedingungen erfordern Anpassung

„Work-As-Imagined“ beschreibt also, was unter normalen Arbeitsbedingungen getan werden soll, und kann als idealisierte Vorstellung der Arbeit in einer Umgebung gesehen werden, die immer gleichbleibt. Dabei wird nicht berücksichtigt, dass die Arbeitswelt zunehmend komplexer wird, und es viele Einflussfaktoren gibt, wie zum Beispiel veränderter Personalstand oder zeitliche Engpässe, die diese Arbeitsumgebung und somit die Arbeitsbedingungen beeinflussen können.

Es ist sowohl in der Praxis als auch im Prinzip unmöglich, genau vorzuschreiben, wie die Arbeit zu verrichten ist. (Hollnagel, 2017)

Um Arbeitsziele trotz veränderter Bedingungen erfolgreich erfüllen zu können, benötigen Mitarbeiter:innen kognitive, emotionale und soziale „Anpassungsleistungen“. Im Gegensatz zu „Work-As-Imagined“ beschreibt „Work-As-Done“, wie tatsächlich gearbeitet wird, also welche Anpassungen durchgeführt wurden.

 

Safety-II

Beim Ansatz Safety-II geht es darum, sich diese Anpassungen genauer anzusehen. Es geht also in erster Linie nicht darum, Fehler und Unerwünschtes zu vermeiden, sondern zu beschreiben, was dazu beiträgt, dass die Auftragsziele erreicht werden. So soll gewährleistet werden, dass die Arbeit auch unter wechselnden äußeren Bedingungen richtig und ohne Probleme abläuft. Sicherheit kann somit als die Fähigkeit einer Organisation definiert werden, unter erwarteten und unerwarteten Bedingungen gleichermaßen zuverlässig zu funktionieren.

 

Es liegt auf der Hand, dass, gemäß Safety-II auch Unterweisungen lediglich eine Annäherung an die Realität des Arbeitsalltags bieten können. Umso wichtiger ist es, sich mit den Mitarbeitenden über ihre Erfahrungen im Arbeitsalltag auszutauschen und bezüglich der Gestaltung von Prozessen zusammenzuwirken.

Das Management von Arbeitssicherheit muss der „Work-As-Done“ entsprechen und darf sich nicht auf die „Work-As-Imagined“ verlassen. (Hollnagel, 2017)

Dieser Zugang bietet eine Reihe von Chancen und Möglichkeiten, hier drei wesentliche Punkte:

  • Es gibt eine große Menge an betrieblichen Daten, die zur Auswertung zur Verfügung stehen (Was haben wir gut gemacht? Wie und warum haben wir es gut gemacht? …)
  • Der Grundansatz ist positiv und flexibel, weil er sich Arbeitsprozesse ansieht, und aufzeigt, wo Potenzial für die Arbeitssicherheit liegt
  • Es gibt keine „blaming culture“, keine Schuldzuweisungen – wichtig ist eine kontinuierliche Weiterentwicklung und Verbesserung

 

Safety-I und Safety-II – Unterschiede

Im Folgenden einige zentrale Unterschiede zwischen dem traditionellen Safety-I und dem innovativem Safety-II:

Safety-I Safety-II
Definition von „Sicherheit“ Prozesse sollen nicht (Gefahr bringend) schlecht laufen Prozesse sollen gut und richtig laufen
Erklärungsmodell Warum und wie sind Fehler passiert? Warum und wie sind Prozesse gut und zuverlässig gelaufen?
Managementgrundsätze Reaktiv – etwas ist falsch gelaufen Proaktiv – Versuch des Antizipierens und Verbesserns
Tab. Eigene Darstellung nach Hollnagel, Wears, Braithwaite. From Safety-I to Safety-II: A White Paper, 2015.

Safety-II ist somit als neuer und ergänzender Ansatz im Arbeitnehmer:innenschutz zu verstehen, der Positives reflektieren und fördern will: Warum läuft die Arbeit gut und problemlos, und wie kann dies auch in Zukunft gesichert und auch weiterentwickelt werden. Weiters ist Safety-II gut dafür geeignet, die Arbeitnehmer:innen dahingehend zu schulen und zu trainieren, mit sich ändernden Arbeitsverhältnissen gut und flexibel umgehen zu können.

Veranstaltungshinweis: Safety-II auf der A+A

Die Allgemeine Unfallversicherungsanstalt (AUVA) und FOM Hochschule für Oekonomie und Management, Aachen, veranstalten gemeinsam einen Workshop zum Thema Safety-II beim 38. Internationalen A+A Kongress, der vom 24. bis 27. Oktober 2023 in Düsseldorf stattfindet.

 

Der Workshop mit dem Titel „Safety-II – lernen aus guten Ehen, nicht nur aus Scheidungen!“ findet am 24. Oktober, um 14:45 Uhr statt. Dabei wird das Konzept von Safety-II und auch die Functional Resonance Analysis Method (FRAM) vorgestellt. Teilnehmende können im Rahmen des Workshops die Methode selbst ausprobieren und bekommen Einblicke in Anwendungsbeispiele aus Industrie und Gesundheitswesen.

Literatur:
Hollnagel, E., Wears, R. L., Braithwaite, J. From Safety-I to Safety-II: A White Paper, 2015.
Hollnagel, E. Can we ever imagine how work is done? In: Hindsight 25, S. 10-13, Eurocontrol, Juni 2017.